Johann Klencke Höperhöfen
Sprach man in den sechziger und siebziger Jahren von Höperhöfen, wurde man sogleich nach dem Einsiedler Johann Klencke gefragt. Nach dem Tod seiner Frau zog er in ein zusammengebautes, altes Auto im Moor und lebte dort mit seinen Ziegen und einem Hund. Er baute Karussells, erfand laufende Spielzeugpuppen und ließ seiner Kreativität freien Lauf. Bilder und Zeichnungen entstanden, die meist Tiere oder die Natur darstellen und oft mit kritischen Gedichten versehen waren.
Bremer Illustrierte : Bildbericht von Peter Stelljes (von 1967)Seite 1

Die Freiheit, die er meint:

„ . . . was andere heute tun, ist mir piepe !"

Eine versponnene Welt, anziehend und ab­stoßend zugleich, märchenhaft und real, er­schreckend und rührend: das ist Johann Klenckes Eremitage im Moor, eine knappe Autostunde von Bremen entfernt. Hier hat sich der närrische Weise mit Mieke, der glänzendschwarzen Hündin, häuslich einge­richtet. Häuslich - das ist ein wenig über­trieben. Die Wohnung ist ein halb in den Boden eingegrabenes Autowrack, in dessen dunstige Enge Klencke den Besucher mit einer chevaleresken Geste einlädt, als sei nichts Ungewöhnliches daran. Dabei ist die Sache ungewöhnlich genug.

Abseits der Zivilisation, doch in ihrer Reichweite, hat Norddeutschlands letzter Einsied­ler eine eigene Art von Freiheit gefunden. Einsiedler ist er tagsüber. Dann erzählt er Mieke, die mit klugen Augen zuhört, seine phantastischen Geschichten von Krokodil­ritten auf dem Nil und von tanzenden Ne­gerweibern, die nur Feigenblätter trugen. Mieke hört auch seine Meinung über den Sündenfall im Paradies, über die Jungfrau Maria und Herodes, über Moses und die Baby-(Baabi-)-Pille.

Abends stülpt er den verbeulten Hut auf das wallende Haar, zieht die zerfranste Jacke über der nackten Brust zusammen und geht ins Dorf, ein bißchen Fernsehen, ein Bier, ein paar Schnäpse - das muntert auf. Schließ­lich kehrt er zurück in seine weglose Einöde, die bei Regenwetter zum Morast wird, viel­leicht mit den neuesten Zeitschriften unterm Arm - denn schließlich will er über die Welt Bescheid wissen.

Im Dorf lächelt man über den komischen Alten. Aber es ist nichts Böses dabei. Johann Klencke bleibt niemanden etwas schuldig, und über Kräuter und Säfte soll er mehr wissen als irgendeiner. An mehreren Stellen seines Grundstücks hat er seine geheimnisvollen Elixiere vergraben: Birkensaft, mindestens fünfzig Flaschen, der ebensogut zum Haar-waschen taugt wie als Medizin. Andere Fla­schen enthalten den Saft von Beeren, Kirschen und Trauben.
„In diesem Wagen hab' ich getrocknete Brennesseln drin, das gibt einen guten Tee", erklärt er, und weiter: „das hier sind Birken­blätter gegen meine Zahnschmerzen.
„Was andere Leute tun, ist mir piepe ..."

„Die anderen Leute", dazu gehören auch die Behörden, wollten ihn hier herausholen und in ein Altersheim bringen. Dagegen hat er sich mit aller Kraft gewehrt. Angeblich, weil's dort 450 Mark Unterhalf im Monat kostet und seine Rente nur 300 Mark beträgt.
In Wirklichkeit aber - das ist nicht schwer zu erraten - gefällt Johann Klencke diese Art Freiheit, so wie es ihm gefällt, staunenden Besuchern davon zu erzählen, wenn er ge­rade dazu aufgelegt ist.

Jetzt verrät er, daß er an einem großen Roman arbeitet. „Das sind eigentlich meine eigenen Erlebnisse, aber ich habe das so gedreht, als wenn der Mensch ein Student war und später Pastor wurde". Das ganze ist mit der Hand geschrieben, ein ganzer Stapel von Schuiheften, peinlich sauber und im „plattdütschen Schnack". Noch sei die Arbeit nicht beendet, aber er suche bereits einen Verleger.
und Trauben.


Ein Student, der Pastor wurde ... und dann? Johann Klencke gibt seinen Besuchern Rätsel auf. Sicher ist, daß er ein eigenes Verhältnis zum lieben Gott hat. Als Mieke und er etwas gegessen haben, geht er zu seinem „Glockenturm", an dem eiserne Halbkugeln hän­gen, die er mit Klöppeln versehen hat. Das ist sein Draht nach oben.
Ein schepperndes Klingeln zerreist die Stille. Er dankt dem Himmel für die Mahlzeit, denn man tau, „da bin ich so'n bißchen in die Frömmigkeit hineingeraten!" meint er und stimmt dann lauthals an: „Dort oben auf dem Berge, da ist es wunderschön, da kann man alle Mor­gen die liebe Sonne sehn!"

Es ist nicht gerade ein Choral, aber der Himmel wird's verstehen.
Sein Himmel.

Aus der Kirche ist der Bibel- kundige vor langen Jahren ausgetreten. Er hält Luthers Bibelübersetzung für falsch und sagt auch, warum.
Die Besucher kommen nicht ganz mit.
Das liegt wohl an der Mate­rie.

Immerhin: vierzig bis fünfzig Jahre hat er „das alles" geglaubt, und es habe ihn einen schweren innerlichen Kampf gekostet, bis er sich davon lossagte.

Während er erzählt, schmust er mit Mieke. Sie ist sein dritter Hund. „Einen hatt' ich, der hieß Piep, und der andere hieß Mucki. Die sind beide tot, und das ist das Töchterchen davon. Das ist vielleicht ein Rowdy! Den hab' ich, seit er drei Tage alt war. Den ersten Tag hab ich ihn mit meinem eigenen Speichel ernährt. Diesen hier - so'n Hand­voll Hund warst du, weißt das noch?" Mieke guckt aus zärtlichen, feuchten Hundeaugen. Großgezogen hat Herrchen sie mit Baby­nahrung und Sahne, und heute haben sie zwei Rotbarsche miteinander geteilt, Junge, war das fein.
Sie leben da draußen nämlich nicht etwa nur von Beeren und Butterbrot. Johann Klencke hat durchaus seine „moderne Einrichtung". Die kann er sogar von seinem Deckenlager aus bedienen. Unter dem Dach des alten Ford hängt eine Gaslaterne, rechter Hand führt eine dünne Gasleitung aus Kupferrohr herein, über deren Ende ein Drahtnetz ge­spannt ist: der Gasherd. Das würde kein Bauaufsichtsamt abnehmen - aber schließ­lich ist ja das Haus auch kein Haus nach den Gesetzen der zivilisierten Welt.

Im übrigen kostet die Freiheit ihren Preis: Vor etwa einem Jahr ist seine Liegestatt einmal in Flammen aufgegangen.
Er selbst trug schwere Verbrennungen davon, konnte sich aber noch ins Dorf schleppen. Die Leute schafften ihn ins Hospital. Heute fühlt er sich wieder ganz gesund.

Daß er nicht recht Lust hat, etwas zu tun, liegt am Wetter. Aber er hat ja noch so.viel Zeit.. Zeit - das ist hier auch ein anderer Begriff als in der Stadt.
Er mißt sein Leben nicht in Jahren, Wann er geboren ist? Na, geboren sei er: „ich weiß selber nicht genau, das war im vorigen Jahrhundert, so um die Neunziger Jahre!"

Er habe beide Weltkriege mitgemacht, den ersten als Soldat. Im zwei­ten war er „sowas wie ein Unterarzt, etwas zwischen Sanitäter und Doktor," In einem Gefangenenlager mit viertausend Russen war er, und die russische Regierung habe ihm ein Dokument ausgestellt, daß er mehr als fünfzig Russen das Leben gerettet habe, „und die letzten haben mich gerettet. Auch Russen haben ein Herz. Das wollte ich nur mal erzählen!"


Na, und dann kam Johann Klenke zurück zu dem Grundstück im Moor, das er vor dem Krieg auf fünfzig Jahre gepachtet hafte. „Ich hab mein ganzes Geld angelegt, zwölf-hunderf Mark - ist alles schriftlich. Ich wollte eine Heimat haben!" Die hat er, der kauzige Sonderling, wenn es hier „für die Augen auch kein New York ist". Er baut sich alles aus dem Autoschrott, den man ihm heranfährt. Wenn er mal ,,'n ordent­lichen Lottogewinn" kassieren kann, könne er sich ja auch was bauen lassen.
Oh ja, auch diesen Teil der Zivilisation hat er akzeptiert. Er spielt jede Woche für vier Mark. Bisher hat's aber nur mal 'ne Kleinig­keit eingebracht.
Wenn schon. Auf dem Grund, den er umge­graben, aufgeschüttet und teilweise trocken­gelegt hat, wachsen Kohl, Kohlrabi, Steck­, Rüben, Obstbäume und manches andere, die Natur gibt ihr Teil dazu.

Sie gibt aber nicht nur Frühling und Som­mer. Da draußen hat Johann Klencke man­chen harten Winter überstanden. Ob er nichtfriere?

Er zeigt auf seine nackte Brust:
„Wenn man die immer frei hält wie die Wangen, dann spürt man die Kälte nicht, ich hab mich schnei! dran gewöhnt."


Er will nicht weg von dem Stück Erde, das er liebt, er will sein Leben leben, er hat noch die Ener­gie, „dieser Welt zu trotzen".
So nach dem Motto:
„Wer in der Luft bleibt und die Luft in ihm, der lebt"

Manches klingt weise, manches kurios. Aber schließlich: sind Narren und Weise nicht nahe verwandt? Manchmal scheinen die wachen Augen in dem Patriarchenkopf über die Weit zu lächeln, die ihn belächelt.
Ist er glücklich und zufrieden?

Seine Antwort paßt in diese seltsame Stunde, an das Ende einer wahrhaft merkwürdigen Begegnung:
„Glücklich? Da muß ich erst mal gucken. Ein Hemd hab' ich ja ...

Kennst du das Märchen von dem König, der seine Knechte ausschickt und sagt: 'sucht mir einen Glücklichen, und dessen Hemd bringt mir!'
Die Knechte liefen los. 'He, bist du glücklich?' fragten sie einen. 'Ja', sagte der. 'Dann zieh dein Hemd aus - der König will es haben!'
Aber - 'ich habe keins ...', sagte der Mann."
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